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Die einsame Nacht

Im Jahr 1995 war ich im Iran Student und wohnte allein in einer Mietwohnung in Südteheran, einem alten Stadtviertel, ein Stadtviertel mit langen, schmalen Gassen und vielen Sackgassen.

Es gab einen Straßenhändler am Anfang der Gasse, an deren Ende ich wohnte. Er hieß Naim und war eigentlich beim Militär, ein Unteroffizier, und der Straßenhandel war sein zweiter Job. Als ich meine zwei Jahre Militärdienst abdiente, hatte ich unter ihm gearbeitet, aber damals gab es mit ihm nur eine Arbeitsbeziehung, nichts weiter.

Nachdem ich jedoch in diese Gasse gezogen war, sah ich ihn jeden Tag und er wollte mit mir freundlich sprechen. Er hielt mich oft an und erzählte über sich und sein Leben. Er rauchte zu viele Zigaretten, deswegen hustete er ständig und laut.

Eines Tages lud er mich in seine Wohnung zum Abendessen ein. Obwohl ich mir im Zweifel war, ob ich das tun sollte, leistete ich dieser Einladung Folge.

Ich ging ungefähr um l8 Uhr zu ihm. Seine Wohnung hatte zwei Zimmer, die mit einer großen Tür miteinander verbunden waren. Es gab dort viele merkwürdige Sachen, die sehr alt schienen. An den Wänden hingen viele verschiedene Bilder von hübschen Sängerinnen und attraktiven Schauspielerinnen geklebt.

Naim war damals 40 Jahre alt und hatte schon keine Harre mehr und trug immer Sportkleidung, einen Trainingsanzug. Er hatte ein ausführliches Abendessen für uns gekocht.

Nach dem Abendessen gingen wir in das andere Zimmer, in dem es ein großes Bild von einer Frau gab. Diese hatte keine Augen. Das Bild lag auf einem Stuhl und es war  mir  bekannt,  dass  Naim es  gemalt  hatte,

weil sein Name unter dem Bild stand, aber Naim gab nicht zu, dass er der Maler war.

Ich wollte ein paar Fragen zu der Frau stellen, aber Naim redete und redete und ließ mich nicht zu Wort kommen.

Ich wollte wissen, wer die Frau ist und warum sie ohne Augen porträtiert war.

Er aber sprach darüber, warum er nach Teheran gezogen war und äußerte immer wieder, dass er schon seit 10 Jahren in dieser Gasse wohne. Er erzählte von vielen merkwürdigen Ereignissen, die in diesem Stadtviertel passiert waren, aber ich glaubte ihm nicht alles, was er sagte.

Als er vom Bild der Frau erzählen sollte, wechselte er plötzlich das Thema, aber ich wollte wirklich wissen, wer diese Frau war, und warum es Naim so schwer viel, von ihr mehr zu erzählen. Ich habe nicht bemerkt, wie sehr mich dieses Bild beunruhigte. Ich hatte Angst, nach Hause zu gehen. Das verstand Naim, deshalb schlug er mir vor, in seiner Wohnung zu bleiben und da zu schlafen, aber ich dankte ihm und verabschiedete mich. Er ließ es sich nicht nehmen, mich nach Hause zu begleiten. Er ging mit mir bis zu meiner Wohnung, dann kehrte er um.

Mir war schwindlig. Kaum hatte ich die Tür geöffnet und war in den Hof getreten, da fühlte ich etwas Eigenartiges. Der Raum des Hauses schien anders. Das war nicht so, wie ich es von vorher kannte, es roch nach Nässe. Ich sah zum Himmel auf; viele dunkle Wolken versuchten den Mond zu bedecken.

Ich trat in meine Zimmer ein und ohne mich richtig auszuziehen, warf ich  mich   auf   das   Bett.   Mir    war   schlecht.   Ich   sah   plötzlich  das

Phantombild der Frau ohne Augen vor mir, aber sie bedeckte sofort ihr Gesicht. Ich wusste nicht, was wirklich war, ob nur das Bild existierte oder die Frau bei mir war.

Ich konnte mich kaum bewegen. Ich fühlte mich kalt und unfreiwillig bloß. Mir war, als wäre mir die Kleidung vom Leibe gerissen.

Dann kam die Frau auf mich zu; sie kam mit ihren langen Nägeln zu mir und wollte mir etwas sagen, aber da drehte ich mich um, und sie stieß ihre Krallen in meinen Rücken. Ich blutete. Der Rücken und mein Körper wurden von Blut überströmt. Da fühlte ich plötzlich, dass jemand mich anfasste, jemand, der mir helfen wollte, dass ich von dieser Frau befreit wurde.

Ich drehte meinen Kopf zu ihr um und sah, dass sie diesmal Augen hatte. Sie waren hellgrün. Ich wollte etwas sagen, aber sie wiederholte nur fieberhaft: „Wach auf! Wach auf!“

Ich habe meine Augen geöffnet, und ich sah in das Gesicht von Naim. Er hatte mich permanent bewegt und gerufen: „Wach auf! Wach auf!“

Ich saß da und kapierte, dass ich zu Hause war und immer noch in meiner Kleidung auf meinem Bett lag.

Mein Vermieter und seine Familie standen im Zimmer. Sie waren erstaunt und beeindruckt.

Ich fragte: „Was ist passiert?“

Naim erklärte: „Du hast geweint und geschrieen.“

Er musste Recht haben, denn mein Kissen war ganz nass geworden!

Der Vermieter fragte: „Was hast du? Was ist mit dir?“

Und ich erzählte, was ich alles geträumt hatte.

Alle haben gelacht, außer Naim. Er sagte: „Ich habe es gewusst, deshalb habe ich dir angeboten, in meiner Wohnung zu bleiben, aber du wolltest es nicht annehmen.“

Der Vermieter fragte: „Wie sah diese Frau denn aus? Kannst du sie beschreiben?“

Ich antwortete: „Ja, sie hatte lange, dunkelbraune Haare und hellgrüne Augen und ein weißes Gesicht.“

Der Vermieter zog ein Bild hervor, zeigte es mir und sagte:  „War sie so?“

Das war unglaublich! Die Frau auf dem Bild war genau so, wie ich sie im Traum gesehen hatte.

Ich habe das Bild genommen und gesagt: „Ja, das war die Frau!!!“

Naim meinte: „Das hier ist die Wohnung, in der diese Frau gewohnt hat. Und dieses Bett war auch ihr Bett. Und heute jährt sich der Tag, an dem sie sich ihr Leben nahm. Sie war Studentin und lebte hier allein, wie du. Ich wollte es dir sagen, aber...“

Ich ließ ihm weiterreden, hörte aber nicht weiter hin.

Morgens früh floh ich aus diesem Stadtviertel und bin nie wieder dorthin zurückgegangen.

Mehran  Tizkar

Teheran- 1998

www.mehrantizkar.com